Quellen für Woyzeck: Sterntaler-Märchen
Published by Tobias Weber,

Illustration zum Grimm’schen Märchen "Die Sterntaler" von Viktor Mohn aus dem Jahre 1882.
Das Märchen der Großmutter in Büchners Woyzeck
Text 1: Das Märchen der Großmutter
Grossmutter. Es war einmal ein arm Kind und hat kei Vater und kei Mutter war Alles todt und war Niemand mehr auf der Welt. Alles todt, und es ist hingegangen und hat greint1 Tag und Nacht. Und weil auf der Erd Niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an und wie’s endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gangen und wie’s zur Sonn kam, war’s ein verreckt Sonneblum und wie’s zu den Sterne kam, warens klei golde Mücke, die waren angesteckt wie der Neuntödter2 sie auf die Schlehe steckt und wie’s wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen3 und war ganz allein und da hat sich’s hingesetzt und geweint und da sitzt es noch und ist ganz allein.
Anmerkungen:
1 »greint«: oberhessisch für laut weinen
2 »Neuntöter«: Dorndreher oder Rotrücken-Würger, ein Vogel, der seine Beute, die er nicht sofort verzehrt, zum Vorrat auf Dornen spießt
3 »Hafen«: süddeutsch für Topf, auch Nachttopf
Aus: Georg Büchner, Woyzeck, Klett Editionen, Leipzig 2003, S. 23 f.
Text 2: Die Sterntaler
Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, dass es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte. Es war aber gut und fromm. Und weil es so von aller Welt verlassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld. Da begegnete ihm ein armer Mann, der sprach: »Ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungrig.« Es reichte ihm das ganze Stückchen Brot und sagte: »Gott segne dir’s«, und ging weiter. Da kam ein Kind, das jammerte und sprach: »Es friert mich so an meinem Kopfe, schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken kann.« Da tat es seine Mütze ab und gab sie ihm. Und als es noch eine Weile gegangen war, kam wieder ein Kind und hatte kein Leibchen an und fror: da gab es ihm seins; und noch weiter, da bat eins um ein Röcklein, das gab es auch von sich hin. Endlich gelangte es in einen Wald, und es war schon dunkel geworden: da kam noch eins und bat um ein Hemdlein, und das fromme Mädchen dachte: Es ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du kannst wohl dein Hemd weggeben, und zog das Hemd ab und gab es auch noch hin. Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel und waren lauter blanke Taler. Und ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, so hatte es ein neues an, und das war vom allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein Lebtag.
Aus: Märchen der Brüder Grimm, München 1937, S. 325 f.