Der Dichter und das Berner Mädeli
Published by Tobias Weber,
Der Dichter und das Berner Mädeli
Auf Erden war ihm nicht zu helfen – Heinrich von Kleist erschoss sich vor 200 Jahren. In der Schweiz wollte er 1802 Bauer werden. Wie nahe kam er auf der idyllischen Thuner Aare-Insel dem Traum vom irdischen Glück?

Kleist am Thunersee: Links das Wohnhaus, rechts das Ufer Richtung Scherzligen. Im Hintergrund Kirche und Fischerdorf. Bild: Wetzel, Aquatinta, 1827 (Sammlung Burkhard Wolter)
Das Glück, notierte er einmal, könne nicht wie ein mathematischer Lehrsatz bewiesen werden, «es muss empfunden werden». Heinrich von Kleist, ein ruheloser junger Mann von 25 Jahren, suchte mit an Verzweiflung grenzender Kühnheit seine Bestimmung. Noch war er kein Dichter, das Korsett einer Beamtenlaufbahn schreckte ihn ab. Aus preussischem Adel stammend, schrieb der Offizier im Ruhestand am 1. Mai 1802 an seine geliebte, wegen ihrer kritischen Haltung Kleists «Hirngespinsten» gegenüber auch gefürchtete Schwester Ulrike: «Jetzt leb ich auf einer Insel in der Aare, am Ausfluss des Thuner Sees, recht eingeschlossen von Alpen, eine Viertel Meile vor der Stadt. Ein kleines Häuschen an der Spitze, das wegen seiner Entlegenheit sehr wohlfeil war, habe ich für sechs Monate gemietet und bewohne es ganz allein.»
Seiner Braut Wilhelmine von Zenge, die Kleist gerne schulmeisterlich belehrte und auf Distanz hielt, hatte er im Oktober 1801 aus den «stinkenden Strassen» von Paris einen zweifellos befremdlichen Entschluss mitgeteilt: «Ich will im eigentlichsten Verstande ein Bauer werden, mit einem etwas wohlklingenderen Worte, ein Landmann.» Beeinflusst war Kleist unter anderen von Jakob Gujer, genannt Kleinjogg, dem Schweizer Bauer und Landwirtschaftsreformer, der 1761 von Hans Caspar Hirzel in der Schrift «Die Wirtschaft eines philosophischen Bauers» gewürdigt und weit über die Grenzen der Eidgenossenschaft bekannt geworden war.Die Schweiz übte damals als idealisiertes Naturparadies eine beträchtliche Anziehungskraft auf zivilisationsmüde Geister aus. Gegenüber seiner Braut hatte Kleist nicht ohne boshaften Unterton bereits im Herbst 1800 den «beautés des villes» eine Absage erteilt – und dazu seine Empfänglichkeit für die Reize eines Bauernmädchens herausgestrichen. Wäre er ungebunden und frei, so Kleist, er wüsste, wonach ihn gelüstete: «Ich durchreiste die Gebirge, besonders die dunklen Täler, spräche von Haus zu Haus, und wo ich ein blaues Auge unter dunklen Augenwimpern oder bräunliche Locken auf dem weissen Nacken fände, da wohnte ich ein Weilchen und sähe zu, ob das Mädchen auch im Innern so schön sei, wie von aussen.»
Wo er Dichter wurde
Ende 1801 betrat Kleist dieses gelobte Land. «Finstre Nacht» und ein «stiller Landregen» konnten seine Vorfreude nicht trüben: «Mir war’s, wie ein Eintritt in ein anderes Leben.» In Bern logierte er beim Schriftsteller und Pädagogen Heinrich Zschokke «neben dem Caffé italien» an der Gerechtigkeitsgasse. In dessen Wohnung hing auch der Kupferstich mit einem Richter und einem zerbrochenen Krug, der Zschokke, Kleist und einen Sohn Christoph Martin Wielands zum Dichter-Wettstreit animierte. Ende Januar 1802 quartierte sich Kleist in Thun ein, zunächst wahrscheinlich in der Nähe des ehemaligen Scherzligentors, und schaute sich Güter und Bauernhöfe in der Umgebung an. Er muss in einer beschwingten Stimmung gewesen sein; an Zschokke schrieb er: «Die Leute glauben hier durchgängig, dass ich verliebt sei. Bis jetzt aber bin ich es noch in keine Jungfrau, als etwa höchstens in die, deren Stirne mir der Abendstrahl der Sonne zurückwirft, wenn ich am Ufer des Thuner Sees stehe.»
In der Nähe von Gwatt gefiel Kleist ein Gut vor allem deshalb, weil das fehlende Herrenhaus ihm die Möglichkeit geboten hätte, ein solches zu bauen. Die Schwester Ulrike wurde brieflich gebeten, eine Geldüberweisung für den Kauf vorzubereiten. Die instabile Lage zwischen dem dritten und dem vierten helvetischen Staatsstreich liess Kleist allerdings zögern; die Vorstellung, unter französische Herrschaft zu geraten, ekelte ihn geradezu an. Im Häuschen auf der Aareinsel wollte er abwarten, «wie sich die Dissonanz der Dinge auflösen wird».Auf dieser Insel sollte der Einsiedler Kleist im Frühling 1802 endgültig zum Dichter werden, er arbeitete am «Zerbrochenen Krug», an der «Familie Schroffenstein» und rang, vermutlich, mit der Fragment gebliebenen «Guiskard»-Tragödie.
Die Unbekannte
Ein junger Mann aus Kleists Thuner Bekanntenkreis beobachtete vom anderen Ufer aus die fiebrig-körperliche Intensität seines Arbeitsstils: «Oft sahen wir ihn stundenlang in einem braunen Curé auf seiner Insel, mit den Armen fechtend, auf und ab rennen und deklamieren.»Seiner Schwester schilderte Kleist sein Refugium als kleines Paradies: «Auf der Insel wohnt weiter niemand, als nur an der anderen Spitze eine kleine Fischerfamilie, mit der ich schon einmal um Mitternacht auf den See gefahren bin, wenn sie Netze einzieht und auswirft. Der Vater hat mir von zwei Töchtern eine in mein Haus gegeben, die mir die Wirtschaft führt: ein freundlich-liebliches Mädchen, das sich ausnimmt wie ihr Taufname: Mädeli.» Da ist der Name also gefallen. Mädeli, das geheimnisvolle Berner Meitschi. Was war sie für Kleist: Haushälterin, temporäre Gefährtin, Geliebte gar?
Seit Robert Walsers 1907 erschienener Erzählung «Kleist in Thun» hat Mädeli ein Eigenleben entwickelt. Über ihre schiere Existenz und ihre Identität streiten die Experten bis heute. Kleist-Forscher Günter Blamberger hat in seiner jüngst erschienenen Biografie nüchtern konstatiert, dass sich um sie viele Gerüchte rankten, «immerhin nimmt sie im Thuner Haus den eigentlich Wilhelmine zugedachten Platz ein, und drei Wochen nach seiner Insel-Schwärmerei schreibt Kleist den Trennungsbrief an Wilhelmine. Mehr lässt sich nicht sagen. Über die Identität der jungen Dame weiss man bis heute nichts Sicheres.»Kleist hat seiner Schwester Ulrike in seiner «Insel-Schwärmerei» vom 1. Mai 1802 das Zusammenleben mit der jungen Haushälterin ziemlich ausführlich beschrieben und den Eindruck erweckt, er lebe mit ihr fast wie Mann und Frau zusammen: «Mit der Sonne stehen wir auf, sie pflanzt mir Blumen in den Garten, bereitet mir die Küche, während ich arbeite für die Rückkehr zu Euch; dann essen wir zusammen; sonntags zieht sie ihre schöne Schwyzertracht an, ein Geschenk von mir, wir schiffen uns über, sie geht in die Kirche nach Thun, ich besteige das Schreckhorn, und nach der Andacht kehren wir beide zurück.»
Harmlose Hochstapelei
Ein weiterer Kleist-Biograf, Jens Bisky, hat diese alpine «Heldentat» mit ironischem Unterton kommentiert: «In dieser Schilderung herrschen eigene Gesetze. Das Schreckhorn hat eine Höhe von 4082 Metern, und jeder mag sich ausrechnen, wie lange die Fischertochter in der Kirche hätte verweilen müssen, um die Fiktion Wirklichkeit werden zu lassen.» Ist diese eher harmlose Hochstapelei – ein Dichter besteigt einen Viertausender auf dem Papier – indes ein ausreichendes Indiz dafür, dass auch Mädeli nur eine Traumgestalt war?
Die zweite grosse Kleist-Biografie im Jubiläumsjahr stammt von Peter Michalzik. Er gibt zu bedenken, dass sich die Forschung in jüngster Zeit fast immer gegen Mädeli entschieden habe: «Man glaubt, dadurch realistischer zu sein. Dabei könnte man genauso gut auf die Worte Kleists vertrauen. Man könnte auch annehmen, dass Kleist ein wenig am Fuss des Berges spazieren gegangen sein wird, egal, ob Schreckhorn, Stockhorn oder ein anderer Berg, während seine Haushälterin im Gottesdienst war.» Mit der behaupteten Besteigung des Schreckhorns habe Kleist «den Mund schon etwas voll genommen», sagt die Thuner Gemeinderätin und Kulturdirektorin Ursula Haller. Er habe wohl gewusst, «dass seine Schwester sich mit den geografischen Verhältnissen in der Schweiz nicht auskannte». Haller glaubt aber Kleist, dass es dieses Mädeli tatsächlich gegeben habe. «Sie führte ihm wohl den Haushalt, und er hatte sie gerne um sich.» Alles andere sei wahrscheinlich ein Wunschtraum gewesen. «Man kann ja auch etwas spekulieren», sagt Haller und lacht, «vielleicht hat ihn das Mädeli ja auch verschmäht.»Vertrauen wir auf die Worte des Dichters – denn viel mehr als die wenigen Briefe Kleists, in denen er Auskunft über sein «Inseldasein» gibt, steht der Forschung nicht zur Verfügung – und zitieren das Ende seines «Idyllenbriefs»: «Weiter weiss ich von der ganzen Welt nichts mehr . . . kurz ich habe keinen andern Wunsch als zu sterben, wenn mir drei Dinge gelungen sind: ein Kind, ein schönes Gedicht und eine grosse Tat (...) Mit einem Worte, diese ausserordentlichen Verhältnisse tun mir erstaunlich wohl, und ich bin von allem Gemeinen so entwöhnt, dass ich gar nicht mehr hinüber möchte an die andern Ufer, wenn Ihr nicht dort wohntet.»Die Forschung hat bis heute drei Kandidatinnen mit dem Namen Magdalena eruiert, die dem Phantom Mädeli Leben einhauchen sollen. Die wahrscheinlichste ist die Fischertochter Magdalena Furer, deren Familie gemäss Grundbucheinträgen bereits zu Kleists Zeiten das alte, in den 1850er-Jahren abgerissene Fischerhaus auf der oberen Aareinsel besass (ihre Nachfahren betreiben heute in der Nähe der Kirche Scherzligen an der Aare eine Bootsbaufirma).
Überstürzte Abreise
Kleist reiste wahrscheinlich Ende Juni 1802 überstürzt Richtung Bern ab, begab sich dort «krank» in die Obhut des Apothekers Wyttenbach und wurde später von seiner Schwester Ulrike abgeholt. Dieser plötzliche Abbruch des Inselidylls provoziert Fragen. Flüchtete Kleist, wie so oft in seinem kurzen Leben, in eine imaginäre Krankheit, wenn die Wirklichkeit unerträglich schien?
Kleist-Forscher Hermann Reske berichtet von Gerüchten, wonach «mit seiner Beziehung zum Mädeli nicht alles gut gegangen» sei – von einem gemeinsamen Kind ist die Rede, auch davon, dass Mädeli Kleist mit einem französischen Offizier untreu geworden sei. Reske ist allerdings bei seinen Recherchen Anfang der 1970er-Jahre in Thun auf nichts gestossen, was diese Gerüchte stützen würde: «Nicht einmal, ob überhaupt eine intime Beziehung zwischen beiden bestanden hat, steht auch nur im entferntesten fest, und wenn das doch der Fall gewesen sein sollte, so weist doch nichts auf ein irgendwie hässliches Ende dieses Verhältnisses hin.» (Tages-Anzeiger)
Erstellt: 20.04.2011, 08:39 Uhr

Heinrich von Kleist traf in Thun in einer beschwingten Stimmung ein. (Bild: PD)
Ein Genie wird gefeiert
«Kleist in Thun 2011»
Ab Ende April wird in Thun das Werk Heinrich von Kleists (1777–1811) aus Anlass seines 200. Todestages ebenso ausgiebig wie vielfältig gewürdigt. Den Auftakt macht am 27. April die Performance «Krug in the Box» vor dem Thun-Panorama. In ihrem Ein-Frau-Stück zaubert die Verwandlungskünstlerin Bridge Markland mit Handpuppen und Popmusik Kleists «Zerbrochenen Krug» aus ihrer Überraschungskiste.
Zu den Höhepunkten gehört am 27. Mai der Vortrag des aus Thun stammenden Schriftstellers Lukas Bärfuss; er geht unter anderem der Frage nach, wie eine Umgebung das Schreiben eines Dichters prägt. Am 3. Juni wird die Komposition und Choreografie «Nicht ich – über das Marionettentheater von Kleist» von Isabel Mundry und Jörg Weinöhl uraufgeführt. Das szenische Konzert mit Instrumental- und Vokal-Ensemble, Sopranistin und Tänzer wird ergänzt durch elektronische Klänge und Texte von Peter Weber und Roland Barthes (das Stück wird am 26. Juni auch in der Zürcher Tonhalle präsentiert).Gespannt sein darf man auch auf die «Kleist-Retraite» (16.–26. Juni) der Theatergruppe Schauplatz International. Das Stück nimmt Kleists Sehnsucht nach Ruhe und Frieden auf. Am 25. Mai wird im Schlossmuseum die Ausstellung «Heinrich von Kleist und die Schweiz» eröffnet, eine Koproduktion mit dem Zürcher Museum Strauhof und dem Kleist-Museum in Frankfurt an der Oder (im Strauhof wird die Ausstellung vom 21. September bis 27. November zu sehen sein). Vom 1. bis 4. Juni wird eine hochkarätig besetzte wissenschaftliche Tagung unter dem Titel «Ich will ein Bauer werden – Kleist in der Schweiz» durchgeführt. Am 2. Juni und 27. August lädt der ehemalige Stadtarchivar Jon Keller zum Kleist-Stadtrundgang ein. Am 17. August stellt der Thuner Schriftsteller Stefan Haenni seinen Kleist-Krimi «Scherbenhaufen» vor. Seinen Abschluss findet der Veranstaltungsreigen am Todestag des Dichters, am 21. November, statt mit der filmischen Recherche «Die Akte Kleist», in der die letzten Stunden von Heinrich von Kleist und Henriette Vogel vor ihrem Doppelselbstmord am Kleinen Wannsee in Berlin rekonstruiert werden. (lex)
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