Das Schweizer Projekt des Heinrich von Kleist | NZZ

Das Schweizer Projekt des Heinrich von Kleist

Nach einem längeren Aufenthalt in Paris kam Heinrich von Kleist 1802 in die Schweiz und träumte von einer idyllischen Existenz als Bauer. In Thun lebte er mehrere Monate auf einer Aare-Insel und wurde zum Dichter.
Rüdiger Görner 18.6.2011

Das Scheitern wurde Heinrich von Kleist zur prekären Lebensform. Immer durchlebte er diese jähen Aufschwünge und Abstürze, führte er ein Leben zwischen Entwerfen und Verwerfen, Utopien und Ernüchterungen. Beidem begegnen wir auch in Kleists Zeit in der Schweiz, wo er sich im Jahre 1802 zehn Monate lang aufgehalten hat. Sein Ausgangspunkt war, nur für wenige Wochen, Basel; es folgten Bern und der Thunersee. Kleist kam damals aus Paris, desillusioniert über diese Metropole des Neuen und Unverhofften, der Machtzentrale Napoleons. Seine Briefe aus Paris ziehen alle Register der Zivilisationskritik, urbane Albträume eines «promeneur solitaire».

Mit Rousseau in die Schweiz

Doch Kleist wollte in die Schweiz; im geistigen Gepäck viel Rousseau. Bis Frankfurt am Main, das er über Metz erreichte, hatte ihn die Halbschwester Ulrike begleitet, die aber von seinen Schweizer Plänen nichts hielt und allein ins heimische Frankfurt an der Oder reiste. Von dort wiederum, so hoffte Kleist, sollte seine Verlobte, Wilhelmine von Zenge, als «Landfrau» zu ihm in die Schweiz folgen.

Kleist gibt sich eine gewisse, aber nicht allzu grosse Mühe, Wilhelmine vom Sinn seines Schweizer Projekts zu überzeugen. Er sucht ein Gegen-Paris, will eine antistädtische Existenz im Sinne Rousseaus führen, «einen Bauernhof kaufen, der mich ernähren kann, wenn ich selbst arbeite». Ein «Bauer, mit einem etwas wohlklingenderen Worte, ein Landmann» will er werden und dadurch einen anderen Begriff von Arbeit verwirklichen: das Land bestellen und dichten durchaus nach antikem Vorbild, aber eben in der Schweiz, die auch ihn magisch anzuziehen scheint. «Freiheit, die edelste Art der Arbeit, ein Eigenthum, ein Weib – ach, liebes Mädchen, für mich ist kein Loos wünschenswerther, als dieses», bekennt er Wilhelmine in seinem zweiten, noch in Paris geschriebenen Brief zu diesem Thema. Natur, Liebe, wirkliches Arbeiten, das ist es, was er vom «Landleben» erhofft; denn die Stadt korrumpiere nur, selbst die Gefühle der Liebenden.

Doch Wilhelmine gibt ihm wie die ungleich robustere Ulrike zu verstehen, dass ein solches Leben ihre Kräfte übersteigen würde. Aber im Gegenteil, kontert Kleist in seinem nächsten Brief; ihre Kräfte könnten nur «gestärkt» werden. «Aufblühen wirst Du vielleicht.» Vielleicht . Immerhin, vormachen will er ihr nichts, ihre «Phantasie nicht bestechen» mit Gerede über die ländliche Idylle und den Segen der Landschaft. Auch sei der Winter keine Jahreszeit, um in die Schweiz zu gehen; das könne nur er sich zumuten. Bezeichnend die folgende Einlassung: «Die Romane», so Kleist, «haben unsern Sinn verdorben. Denn durch sie hat das Heilige aufgehört heilig zu sein, u das reinste, menschlichste, einfältigste Glück ist zu einer blossen Träumerei herabgewürdigt worden.» Der Roman gilt ihm als Medium der Profanierung, ja Säkularisierung (da mag es konsequent erscheinen, dass von Kleist kein Roman überliefert ist). Ihn drängt es nach Erfahrungswissen, nach Schweizer Wirklichkeit. Und er wird sie schon bald erfahren.

Kleist betritt die Schweiz, vom französischen Elsass kommend, in Basel. Zuvor hat ihn das «wie ein Stern gebaute Carlsruhe» beeindruckt. Die Stadt, vermerkt er bewundernd, «ist klar und lichtvoll wie eine Regel, u wenn man hineintritt, so ist es, als ob ein geordneter Verstand uns anspräche». In Basel dagegen «fiel stiller Landregen überall nieder». Unwirtlich scheint ihm dieser Ort. «Diese Stadt ist sehr still, man könnte fast sagen öde. Der Schnee liegt überall auf den Bergen, u die Natur sieht hier aus wie eine 80jährige Frau. Doch sieht man ihr an, dass sie in ihrer Jugend wohl schön gewesen sein mag.»

Kleist hatte gehofft, hier auf Heinrich Zschokke zu treffen, den 1771 in Magdeburg geborenen einstigen Wissenschafter, dann zum Publizisten und Politiker gewordenen Wahlschweizer, der sich jedoch zum Zeitpunkt von Kleists Ankunft in Basel bereits in Bern aufhielt, wohin sich Kleist denn auch selbst bald begab. Nur wenige Tage Basel, und Kleists Befund über das politische Klima klingt wenig verlockend: «Ach, Ulrike, ein unglückseeliger Geist geht durch die Schweiz. Es feinden sich die Bürger untereinander an.» Bevor er am Thunersee das «Landleben» etwas eingehender erfahren konnte, sollte er noch einiges mehr von diesem Sich-untereinander-Anfeinden kennenlernen. Zudem hatte er sich mit seinem Reisebegleiter, Friedrich Lose, entzweit. Kleists Versuch, sich über das Wechselbad der Gefühle zu seinem Freund klar zu werden, führte dann zu seinem wohl kuriosesten Liebesbrief, den er auf dem Weg nach Bern Ende 1801 verfasste.

Kleist geriet in ein Land, das sich in einem Bürgerkrieg befand und die Nachwehen der Französischen Revolution an sich erlebte. Die bürgerlich-liberalen Anhänger einer zentralstaatlich regierten Helvetik stehen den alten Patrizieroligarchien gegenüber, die föderal denken. Die Franzosen hatten die Helvetische Republik mit Waffengewalt durchgesetzt, weil sie davon ausgingen, damit die Schweiz in einen Vasallenstaat zu verwandeln. Zschokke favorisierte in Basel die Helvetik, musste aber sein Staatsamt dort aufgeben, als 1801 die konservativen Patrizier in einem Staatsstreich ihre Macht zurückgewannen.

Politische Zurückhaltung

Paradoxerweise sollte Kleist in Heinrich Zschokke einen Freund gewinnen, der zu jener Zeit als Anhänger einer französisierten Helvetik bekannt war. Doch in Sachen Politik hält sich Kleist vorerst zurück; er habe (in der Schweiz) «keine politische Meinung», schreibt er Anfang Januar 1802 an Ulrike und müsse daher auch nichts fürchten. Zschokke allerdings wolle ihm sogar das «Schweizerbürgerrecht» verschaffen, wobei er nicht wisse, ob er den Freund «recht zu lesen» verstehe. Eines weiss er: «Ich bin so sichtbar dazu gebohren, ein stilles, dunkles, unscheinbares Leben zu führen, dass mich schon die zehn oder zwölf Augen, die auf mich sehen, ängstigen.» Er scheue vor den Erwartungen zurück, welche die Menschen an ihn richteten.

Ganz so wörtlich war das nicht zu verstehen; denn vor einigen Augen sollte er schon bald seine «Familie Ghonorez» zu Gehör bringen, die spätere «Familie Schroffenstein», deren mörderische Zerstrittenheit geradezu ideal in die mit sich selbst in Zwist liegende Schweiz zu passen schien. Dass sich der in Zschokkes Wohnung in der Gerechtigkeitsgasse treffende Berner Dichterkreis, vor dem Kleist sein Drama vortrug, dabei vor Lachen kugelte, Kleist eingeschlossen, zeugt von den extremen Stimmungslagen, in die einen Kleistsche Dichtungen versetzen können. Damit ist jedoch auch gesagt: Auf Schweizer Boden gelingt Kleist der Durchbruch zum Schreiben.

Kleist bereitete sich auf das Landleben vor; «landwirthschaftliche Lehrbücher» habe er gelesen und «die Landleute durch Fragen gelockt, mir Nützliches u Gescheutes zu antworten». Dabei betont er die Hilfsbereitschaft und Offenheit der Schweizer, die vielleicht auch vor schierem Erstaunen gesprächig wurden über einen offenbar weitgereisten, sehr städtisch wirkenden jungen Mann, der einer der Ihren werden wollte.

Aber Bern bot doch eine ganz andere Resonanz. Neben Zschokke verkehrte er mit dem Buchhändler Heinrich Gessner, Sohn des Zürcher Idyllendichters; dessen Schwager, Ludwig Wieland, war zugegen, mit dem sich Kleist anfreundete, was ihm eine Einladung nach Ossmannstedt zu «Papa Wieland» einbringen sollte, nachdem sein Schweizer Projekt kläglich gescheitert war. Die Atmosphäre in der städtischen Gerechtigkeitsgasse dürfte wohl Kleists eigentliche produktive «Idylle» in der Schweiz gewesen sein. Dass Zschokke ihn auch auf Molière wies und zudem einen Dichterwettstreit über das Motiv von Louis Philibert Debucourts Gemälde «Le Juge, ou la cruche cassée» anregte, der zu Kleists meisterlichem Lustspiel «Der zerbrochne Krug» führte, überwog qualitativ das Landabenteuer auf dem Delosea-Inseli am Thunersee, ungeachtet der dortigen (wie auch immer gearteten) Betreuung durch das «Mädeli» oder «Meitschi» oder des gelegentlichen Nacktbadens im mondscheinbelichteten Thunersee.

Ernüchterungen

Von April bis Oktober 1802 hatte Kleist ein Holzhäuschen auf einer Aare-Insel gemietet, wobei er im August schreibt, zwei Monate in Bern krank, offenbar schwer krank, gelegen zu haben. Einmal mehr wird Ulrike zu ihm eilen, allein, den ganzen Weg von Frankfurt an der Oder bis Bern, das von den Föderalisten belagert und schliesslich besetzt wird. Kleist bemüht sich darum, aus einer Schweizer Perspektive zu denken; und das bedeutet, dass er die wachsende «Erbitterung der Schweizer gegen diese Affen der Vernunft», gemeint sind die offenbar mit «Brutalität» in Erscheinung tretenden Franzosen, die zeitweise auch Thun besetzt haben, teilt und seinem Mädeli, das ihm kocht und Blumen pflanzt, eine «schöne Schwyzertracht» kauft. Sie gehe, so Kleist, zur Andacht in die Kirche, er besteige derweilen das Schreckhorn, was angesichts der bergsteigerisch herausfordernden Wirklichkeit dieses von Thun doch einige Tagesmärsche entfernten Viertausenders nur in sehr übertragenem Sinne gemeint sein kann.

Doch Kleist hat sich mit seinem Schweizer Projekt in jeder Hinsicht verausgabt. Er kommt zu dem Befund, «das Leben hat doch immer nichts Erhabeneres, als nur dieses, dass man es erhaben wegwerfen kann». Auch seine Noch-Verlobte schreibt ihm, dass sie, die ihren Bruder überraschend verloren hat, erkrankt sei und «den Gedanken an den Tod gar nicht schrecklich» empfinde. Und doch löst Kleist im Mai 1802 vom Idyll des Thuner Refugiums aus seine Verlobung: «Liebes Mädchen, schreibe mir nicht mehr. Ich habe keinen andern Wunsch mehr als bald zu sterben.» Als Ulrike Mitte September in Bern ankommt, ist Kleist genesen; er nimmt sie nach Thun mit, zeigt ihr sein Häuschen und die Landschaft des Berner Oberlands. Es ist nichts überliefert über diese Tage halbgeschwisterlicher Eintracht in Thun. Gewissheit herrscht nur darüber, dass sie Mitte Oktober abreisen, Kleist, Wielands Sohn und Ulrike, und dass Ende des Jahres Heinrich Gessner «Die Familie Schroffenstein» anonym erscheinen lässt.

Späte Spuren

Das pseudorousseauistische «Projekt Schweiz» hinterliess tiefe Spuren im Werk Kleists, und zwar an einer geografisch geradezu unwahrscheinlichen Stelle, sowie in Robert Walsers zauberhaftem Prosastück «Kleist in Thun». In Kleists später Erzählung «Die Verlobung in St. Domingo» figurieren wehrhaft-listige Schweizer, die es in französischen Diensten nach Haiti / San Domingo verschlagen hat, in handlungstragender Rolle. Der Familientross des Herrn Strömli und dessen Vetter, Gustav von Ried, sehen sich in eine selbst für Kleists Verhältnisse bestürzende Gewaltorgie verstrickt, die mit Gustavs Selbstmord und der wundersamen Rettung der Strömlis endet. Herr Strömli wird sich, wie der Erzähler genau vermerkt, 1807 «in der Gegend des Rigi» ankaufen und dort den toten Liebenden, Gustav und seiner kreolischen Verlobten Toni, ein Denkmal setzen. Mit diesem Gedenkstein für ein tragisch gescheitertes «interkulturelles» Experiment mag Kleist – auf freiem Schweizer Grund – einen, wenn man so will, Stein des Anstosses zur Selbstbesinnung auf den Wesenskern des Menschlichen errichtet haben.

Und Walser? Er holt Kleist in die Gegenwart und fragt nach dem, was ihn umtreibe: «Ich lebe nicht, schreit er und weiss nicht, wohin er sich mit Augen, Händen, Beinen und Atem wenden soll. Ein Traum. Nichts da. Ich will keine Träume», so Walsers Kleist auf Thuns für Ausblicke günstig hoher Kirchhofsmauer. Aber Kleists Schweizer Projekt versinkt mit der Abendsonne hinter zu hohen Bergen.

Thun feiert Kleist

rbl. ⋅ Mit dem Wunsch, Bauer zu werden, kam Heinrich von Kleist Anfang 1802 in die Schweiz; als Dichter verliess er Mitte Oktober 1802 das Land. Während mehrerer Monate hielt sich Kleist auf einer kleinen Aare-Insel in Thun auf, wo er ein Häuschen bewohnte und an seinen ersten dramatischen Werken arbeitete. Heute liegt die Insel mitten in der Stadt Thun und heisst seit März 2011 «Kleist-Inseli». Sie ist in Privatbesitz und nicht mehr zugänglich; auch das von Kleist bewohnte Haus steht heute nicht mehr. Die Stadt Thun feiert Kleist mit einer Ausstellung im Schlossmuseum, die seinen Aufenthalt in der Aarestadt dokumentiert und seine dichterischen Anfänge darstellt (bis 4. September). Noch bis zum 26. Juni ist das Stück «Die Kleist-Retraite» der Theatergruppe Schauplatz International in Thun zu sehen. Lesungen und Konzerte ergänzen das Programm.

Das gesamte Veranstaltungsprogramm und nähere Informationen unter: www.heinrich-von-kleist.org/kleist-in-thun-2011.

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