Wo die Legenden auf den Straßen liegen - WELT
Published by Tobias Weber,
Wo die Legenden auf den Straßen liegen
"Die Literatur", sagte Ismail Kadare, "ist ein Königreich, das ich mit keinem Land der Welt eintauschen möchte, selbst mit einer Republik nicht." In "Der zerrissene April" erzählt Kadare eine Geschichte aus seinem Heimatland Albanien. Es ist eine fremde Welt, in die Kadare seine Leser entführt, eigensinnig, rebellisch, unbekannt. Von einer Blutrache handelt der Roman des Nobelpreiskandidaten, von einem tausendjährigen Gesetzeskodex, der das Leben der Menschen bestimmt und selbst Unbeteiligte mit sich in den Untergang zieht.
Um die Verfeinerung des literarischen Geschmacks ist es ganz ähnlich bestellt wie um die des musikalischen: Den Entwicklungen des Genres folgend, die Komplexitäten und Kompliziertheiten der Moderne begreifen lernend, sein Ohr schulend, das Lernen und Verstehen immer weiterer Zusammenhänge als harte intellektuelle Arbeit pflegend, ist man irgendwann, was die Musik betrifft, bei Webern oder Boulez, was die Literatur angeht, zum Beispiel bei Claude Simon angekommen und hat unter den subtil-schmerzhaften Freuden, seinen Verstand und seine Sensibilität ins Innere dieser Kunstwerke zu bohren, ganz vergessen, wie alles angefangen hat.
Denn alles fing an, damals als man ein Kind war und später ein Jugendlicher, mit Epiphanien: Die Geräusche und Gerüche im Hafen zu Beginn der Schatzinsel oder wenn Ismael unterwegs zu seinem Walfänger die Nähe der Küste spürt, die Atmosphäre des Dschungels, wo der kleine Mowgli zwischen Wölfen aufwächst, und was dergleichen Urerfahrungen von der Magie der literarischen Sprache noch mehr waren. Damals kam man nicht auf den Gedanken, das Lesen von Literatur könne Arbeit sein. Arbeit, das war die Schule, Arbeit, das war das Unangenehme schlechthin. Zu Lesen dagegen hieß, einen fliegenden Teppich zu besteigen, sich den Zauberkräften der Literatur anzuvertrauen und die Überwindbarkeit aller Gesetze der Zeit, des Raums und der Begrenztheit des eigenen Ichs zu erfahren.
Wer sich also nicht begnügen will mit dem literarischen Mainstream unserer Tage, dem, was man gehobene Unterhaltung nennt und was ebenso schnell konsumiert wie vergessen ist, dem passiert sehr leicht, was mir ein Freund letztens schilderte: Einen der großen, schweren Romane der klassischen Moderne hatte er gelesen, einen jener Marksteine, die die Literaturgeschichte einem vor die Füße gewälzt hat, und die Bilder, mit denen er mir die Lektüre beschrieb, stammten beinahe alle aus der Welt des Bergbaus: Das musste ein Graben und Fräsen, ein Bohren und Schaufeln, ein Meißeln und Schürfen gewesen sein, dass einem Angst und Bange werden konnte, und behauptete der Freund auch stolz, dank all diesen Anstrengungen auf eine Goldader gestoßen zu sein, so verstand ich doch nur soviel, als dass er sich dabei offenbar eine Staublunge geholt hatte.
Da ist dann die Freude umso größer, wenn es einem einmal widerfährt, einen großen Autor der Moderne zu entdecken, dessen Lektüre all jene verloren geglaubten Sensationen aufs Neue wachruft: Dass man mit dem ersten Satz gepackt, mit starkem Arm durch die Membran des Textes gezogen wird in eine fremde, faszinierende Welt, dass man atemlos Seite um Seite verschlingt, um zu erfahren, wie es weitergeht, was passiert, und dennoch immer wieder innehält, um eine Beschreibung um ihrer Schönheit und Genauigkeit noch einmal zu lesen, dass man ein paar Stunden lang der Welt verlorengeht, um dann wieder aufzutauchen, sich die Augen zu reiben und verwundert festzustellen, man hat soeben einen Roman gelesen.
Genau dies ist mir jetzt passiert mit dem albanischen Schriftsteller Ismail Kadare.
Nun braucht es in Europa keineswegs besondere Sehergaben, um den 1936 in Gjirokastra Geborenen zu kennen und zu schätzen. Der seit rund zehn Jahren in Paris Lebende gehört nach allgemeiner Einschätzung in die Riege der Antunes oder Kundera, das heißt, jener großen Autoren der alten Welt, die längst den Nobelpreis hätten, würde dieser ausschließlich nach Kriterien literarischer Qualität verliehen.
Nur in Deutschland, wo die Kritiker vielleicht zu sehr damit beschäftigt sind, uns alle sechs Monate einen neuen amerikanischen Messias aus dem Hut zu zaubern, um sich für die Literatur eines so nahen (und doch fernen) Landes wie Albanien interessieren zu können, ist Ismail Kadare noch nicht so bekannt, wie er sein könnte und sollte.
Nun, das wird sich jetzt vielleicht ändern dank der Bemühungen zweier Verlage und eines Übersetzers, Joachim Röhm, dessen Arbeit so überzeugend ist, dass beim deutschen Leser Kadares in keinem Augenblick der Eindruck entsteht, es hier mit einem übersetzten Text zu tun zu haben.
Bei den Verlagen handelt es sich zum einen um Ammann und sein ebenso mutiges wie verdienstvolles Projekt einer Werkausgabe Kadares, die jetzt mit dem Roman "Der zerrissene April" eröffnet wurde, und zum anderen um dtv, wo bereits sechs lieferbare Romane des großen Albaners ein weiterer Beweis dafür sind, dass, sucht man in Deutschland nach anspruchsvoller Literatur, die anderswo aufgrund der Forderung nach zehnprozentiger Umsatzrendite verramscht oder gleich gescheut wird, der Münchner Taschenbuchverlag eine (letzte) sichere Bank darstellt.
Nun ist es trotz des jugendlich intensiven Leserauschs nicht etwa so, dass Kadare ein zeit- und selbstvergessener orientalischer Märchenerzähler wäre. Nein, er ist sehr wohl mit allen Wassern der Moderne gewaschen. Nur besitzt er den unschätzbaren Vorteil, sich nie um deutsche Rezensenten geschert haben zu müssen. Er kann die Oberfläche seiner Texte vor der hässlichen Schuppenflechte all der demonstrativen Ismen bewahren, die allein den gelehrten Doctores im hiesigen Feuilleton die Diagnose "modern" ermöglicht, aber keiner jener seelenlosen Basteleien je ein wenig Leben hat einhauchen können.
Kadare war das Leben von Anfang an dicht auf den Pelz gerückt: Hier die jahrhundertealte legendenreiche Tradition des archaischen Landes, dort die stalinistische Diktatur Hodschas, in die er als Kind hineinwuchs, um dann lange Jahre das einzige künstlerische Sprachrohr seiner Heimat zu sein.
Auch was Sprache bedeutet und welche Risiken Sprache birgt, war klar für einen, der, geschult an den griechischen Tragöden und an Shakespeare in Albanien einen Weg finden musste, schreiben und publizieren zu können, ohne zum offiziellen Dissidenten zu werden - denn ein albanischer Dissident, dies ins Stammbuch all jener, die dann zu Helden der Moral auflaufen, wenn es nichts mehr kostet, und den Sparren im fremden Auge deutlicher sehen als den T-Träger im eigenen - ein albanischer Dissident, das hätte in jenen Jahren bedeutet: ein toter Dissident.
Die beiden Romane "Der zerrissene April" und "Doruntinas Heimkehr" eint denn auch die Mischung aus Zeitenthobenheit und moderner Struktur. Es kann in ihnen vorkommen, dass ein Reiter mitten im einsamen Bergland zum Himmel hinaufblickt und einen Jet vorübergleiten sieht, so dass man nicht mehr weiß: Handelt es sich um einen bewussten Anachronismus des Autors, Erzeugnisse der modernen Technik in ein mittelalterliches Ambiente zu plazieren, oder ist vielmehr die Archaik des Lebens in der albanischen Einöde noch im Zeitalter der Düsenflugzeuge so groß, dass ein Reisender von ihrem Anblick erschreckt und bewegt sein kann?
Geschrieben sind diese im Grenzbereich zum Mythos und der Legende angesiedelten Geschichten aber mit den Mitteln moderner Literatur, und erdacht von einem ganz heutigen Geist: Lakonismus der Schilderung geht Hand in Hand mit tiefem psychologischen Einfühlungsvermögen, erfahrene Skepsis gegenüber dem menschlichen Charakter schafft gebrochene Personen, deren unerklärbarer Rest unerklärt bleibt, meisterliche Handhabung der Synekdoche erlaubt es Kadare, seine Geschichten auf 150 oder 200 Seiten auszubreiten, wo andere 500 bräuchten. Die Handlungen bleiben offen; so solide Kadares Konstruktionen sind, so wenig gibt er als Autor seiner Zeit des Lesers Wunsch nach, ein eindeutiges, sauberes Ende geliefert zu bekommen.
"Der zerrissene April" erzählt von der jahrhunderalten fatalen Tradition der Blutrache im albanischen Hochland, deren Funktionieren vom "Kanun", dem überkommenen Gewohnheitsrecht der Berge geregelt wird. Der junge Gjorg hat nach dem Mord am Mitglied einer anderen Dorfsippe noch genau 30 sichere Lebenstage vor sich. Danach, so die Tradition, ist er seinerseits zum Abschuss freigegeben. Diese Frist endet Mitte April, daher der Titel des Romans.
Zugleich hat ein Schriftsteller aus der Hauptstadt die verrückte und fatale Idee, die Flitterwochen mit seiner jungen Frau im Hochland zu verbringen und dabei eben jenes alte Gewohnheitsrecht zu studieren.
So die vielversprechende Konstellation. Die beiden Handlungen wechseln einander ab und laufen auf den Punkt zu, an dem Gjorg, für den das Leben auf wenige Tage geschrumpft ist, der von Stunde zu Stunde ernüchterteren Gattin des Schriftstellers begegnen wird. Was Kadare aus dieser Versuchsanordnung macht, wie er alle auf Erfüllung und Happy End wie auf Katastrophe gerichteten Erwartungen des Lesers unterläuft, das ist meisterlich und soll nicht verraten werden.
Aber bemerkt will doch sein, dass sich Kadare in der extrem zurückhaltend und lakonisch mehr verschwiegenen als beschriebenen Schlüsselszene auch als ein großer erotischer Schriftsteller erweist, wenn man denn unter Erotik nicht das Feilhalten von Geschlechtsteilen versteht, sondern die Evokationskraft eines alles andeutenden, nichts aussprechenden literarischen Bildes. Was der Leser sich alles ausmalt, als Diana, die Frau des Schriftstellers, ganz unvermittelt und ohne ihren Mann einen Fluchtturm betritt, eines jener verbarrikadierten Häuser, in denen sich Bluträcher vor ihren Verfolgern verbergen, das ist erregender und spannender als seitenlange Schilderungen.
"Doruntinas Heimkehr" ist eine faszinierende Mischung aus Kriminal- und Gespenstergeschichte, zu der, wie Kadare kürzlich bei einer Lesung preisgab, Gottfried August Bürgers berühmte Ballade "Lenore" Pate stand.
Der Polizeihauptmann Stres wird in aller Herrgottsfrühe aufgrund eines rätselhaften Vorfalls aus dem Schlaf gerissen: Drei Jahre, nachdem sie ins 14 Tagesreisen entfernte Böhmen verheiratet wurde, kehrt die junge Doruntina extrem verwirrt nach Hause zurück und behauptet, in einer einzigen Nacht von ihrem Bruder Konstantin herbeigebracht worden zu sein. Damit bringt sie ihre Mutter schier um den Verstand, denn Konstantin ist, wie alle seine Brüder, bereits vor zwei Jahren gestorben. Diese Eröffnung wiederum ist ein entsetzlicher Schock für das junge Mädchen, das offenbar glauben muss, mit einem Toten im Sattel gesessen zu haben.
Wer hat Doruntina zurückgebracht? Das ist der Originaltitel des Buchs und die Frage, vor die der Polizist, der sich gegen seine inneren Stimmen weigert, an Gespenster zu glauben, beantworten muß. Ein Toter? Ein Betrüger? Ein Liebhaber? Oder ist Doruntina selbst die Betrügerin? Und der Fall muss eine rasche Lösung finden, denn die orthodoxe Kirche sieht ihre Macht bedroht, wenn im Volke Legenden von Auferstandenen kursieren.
Die Aufgabe des Polizisten ist umso kniffliger, als seine beiden einzigen Zeugen, Doruntina und ihre Mutter, wie in einem Hitchcockfilm nach wenigen Seiten bereits tot sind, gestorben am Schock, den die jeweils andere ihnen beibrachte.
Es ist ein Stoff, nach dem sich ein jeder Autor die Finger leckt. Aber nicht jeder Autor könnte ihn so schildern wie Kadare. Gewiss, der Mann hat Glück, aus einem Land zu kommen, in dem die Legenden bis in die Gegenwart reichen, die unglaublichen Geschichten auf der Straße liegen, und wo die Realität ein paar mehr Dimensionen - auch Gefahrendimensionen - besitzt als hierzulande. Aber er macht auch etwas daraus: Lesefutter, das zugleich sublime Kunst ist.
Ismail Kadare: Der zerissene April.
Aus d. Alban. v. Joachim Röhm. Ammann, Zürich. 239 S., 19,50 E.
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