Walter Boehlich über Garcia Marquez: „Chronik eines angekündigten - DER SPIEGEL 32/1981
Published by Tobias Weber,
Walter Boehlich über Garcia Marquez: „Chronik eines angekündigten
Todes“ Fuenteovejuna in der Karibik Der Kurzroman „Chronik eines angekündigten Todes“, das jüngste Werk des kolumbianischen Erzählers Gabriel Garcia Marquez ("Hundert Jahre Einsamkeit“, „Der Herbst des Patriarchen"), 53, hat in Deutschland schon vor der Buchveröffentlichung durch einen Raubdruck in der Zeitschrift „Pflasterstrand“ Aufsehen erregt. - Walter Boehlich, 59, lebt als Publizist und Übersetzer in Frankfurt.
Von der ersten Zeile an ist alles klar: es wird ein Mann getötet werden. Von diesem so oft angekündigten oder verkündigten Tod (was nicht ganz dasselbe wäre) handelt die "Chronik" -von nichts sonst.
Oder doch? Garcia Marquez sagt, er habe die "vulgäre Spannung" vermeiden wollen, die ein Merkmal ja wohl nicht nur einer bestimmten Unterhaltungsliteratur ist. Aber ohne Spannung geht es trotzdem nicht ab, denn obwohl wir so genau und unwiderruflich wissen, daß Santiago Nasar ermordet werden wird, obwohl wir bald erfahren, wer ihn ermorden wird, bleibt bis zum Ende dunkel, wie er ermordet wird.
Nicht nur das: Wenn seine Mörder jedem, der es hören und nicht hören will, immer nur sagen, daß sie ihn töten werden, wenn also schließlich beinahe jeder in dem namenlosen Nest irgendwo in der Nähe der Karibik weiß, was sie vorhaben, dann stellt sich Spannung schon durch die unabweisliche Frage ein, warum niemand diesen Mord verhindert hat.
Spannung stellt sich auch ein durch die Art und Weise, in der die Geschichte des Mordes erzählt wird. Nicht, natürlich, chronologisch vom Anfang zum Ende, sondern als Versuch des Autors, Jahrzehnte später "den zerbrochenen Spiegel der Erinnerung aus so vielen verstreuten Scherben wieder zusammenzusetzen".
Der Erzähler, so wird uns bedeutet, war dabei, oder doch wenigstens anwesend, nicht am Ort der Tat, aber immer in der Nähe. Was er weiß, ist nicht viel, ist nur ein Teil des Wissenswerten; andere wissen anderes, und ganz allmählich entsteht wenigstens das Bild der Tat. Die Tat freilich ist nicht alles und am Ende vielleicht nicht einmal das, was unter dem Vorwande der Faktensammlung erzählt werden soll.
Man kann die Kurzgeschichte auf ihre Schönheiten hin lesen, auf ihre Phantasie, ihre monströsen Übertreibungen, auf ihre Sinnlichkeit; man kann einzelne Episoden genießen wie die von der hinreißenden und vor sich hinfressenden Bordellwirtin Maria Alejandrina Cervantes oder die von den fast 2000 ungelesenen Liebesbriefen Angelas, die schließlich, Jahrzehnte zu spät, zu dem erwünschten und nun sinnlos gewordenen Erfolge führen -aber das alles wären Einzelheiten, so wie auch die erzählte Geschichte aus den vielen Scherben besteht, hinter denen doch ein Sinn verborgen scheint.
Mit einem Fest, an dem fast der ganze Ort teilnimmt, feiert Bayardo San Roman seine Hochzeit. Seine Braut Angela allerdings ist keine Jungfrau mehr, und er bringt sie deswegen noch in der Hochzeitsnacht zu ihren Eltern zurück. Ihr Verführer, sagt sie den Brüdern, sei Santiago Nasar gewesen.
Alles nimmt den Lauf, den es nehmen muß: Die Zwillinge Pedro und Pablo müssen die verlorene Ehre der Schwester "wiederherstellen", sie müssen Santiago Nasar ermorden. Und sie tun es. So weit wäre das Ganze nicht mehr als ein Stück über den hassenswerten Machismus, den die Spanier dem Halbkontinent eingeimpft haben.
Es wäre das auch dann noch, wenn sich herausstellt, daß Santiago Nasar kaum der Verführer gewesen ist, daß Angela Vicario vermutlich nur einen anderen schützen wollte und Santiago nur deswegen genannt hat, weil sie ihn seiner geachteten sozialen Stellung wegen sicher vor der Rache ihrer Brüder glaubte. "Wer, wann und wie" sie tatsächlich verführt hat, wird nie geklärt. Um so mehr Mühe wird darauf verwendet, alles andere "wer, wann und wie" aufzuklären. Es geht zu wie in einer veritablen Kriminalgeschichte, in der ermittelt werden muß, wer was getan und wer was gesehen hat, aber alles, was sich ermitteln läßt, bleibt an der Oberfläche. Die Wahrheit, die frei machen könnte, bleibt verborgen.
Warum ist Bayardo in den Ort gekommen? Warum hat er sich in den Kopf gesetzt, ausgerechnet Angela zu heiraten? Und, vor allem, warum hat niemand den Mord verhindert oder verhindern können? Jeder, der es allenfalls gekonnt hätte, läßt sich ablenken durch falsche Vermutungen, durch offensichtliche Fehlleistungen, durch Manöver der Selbstablenkung, die in der Ethologie "Übersprunghandlungen" genannt werden.
Wenn aber niemand den Mord verhindern konnte oder wollte, bekommt dieser Mord den Charakter einer unausweichlichen Notwendigkeit -- und er hört auf, nichts als die Tat der beiden Mörder zu sein.
Daß er unsinnig ist, weil offenbar der Falsche geopfert wird, ändert nichts an dem Mechanismus der "Sitte", die zu ihm führt. Santiago, der nicht der Verführer zu sein scheint, wird zum Sündenbock, auf dessen Haupt alle Sünden und Missetaten gelegt werden, an denen der Ort nicht arm ist. Ist er aber der Falsche, dann ist die Erzählung gleichzeitig Kritik des Erzählten. Die Opferung wird zur Gewalttat, die nicht sein dürfte, schon gar nicht dort, wo die Kirche eine so entscheidende Rolle spielt.
Mit anderen Worten: auch Kritik an dieser Kirche, deren Vertreter am augenfälligsten versagen. Der Priester weiß nichts anderes zu tun, als die Sturmglocke zu läuten, und der Bischof, dessen größte Leidenschaft Hahnenkammsuppe ist, fährt auf seinem Dampfer, mechanisch den Segen erteilend, am Ort vorbei; seine Visite, die gleichfalls angekündigt war und womöglich alles verhindert hätte, findet nicht statt. Der Segen wirkt nicht, der Ort entsühnt sich auf seine Weise, das S.134 heißt, er wird in Wirklichkeit schuldig durch ein kollektives Verbrechen.
Mit der Kirche muß die "Chronik" mehr zu tun haben, als der erste Blick erkennen läßt. Die zunächst ganz alltäglich klingenden Namen deuten darauf hin. Warum heißt, zum Beispiel, die Braut Angela (Engel), warum heißen die Zwillinge Pedro und Pablo (Peter und Paul), warum heißt der Ermordete Santiago (Jakobus), warum sein Freund Cristobal (Christophorus), warum schließlich wird von einer Wunde Santiagos gesagt: "Sie sah aus wie ein Wundmal des Gekreuzigten"? Und was heißt es, daß Santiago das Mädchen Divina Flor nie besitzen, sein Landgut El rostro Divino nie wiedersehen wird?
Zufälle wären das auch bei einem anderen Autor nicht; bei Garcia Marquez können sie es nicht sein. Die Tragödie, die sich da abspielt, ist auch eine christliche, aber die Kritik am Christentum ist ebenso nur ein Teilaspekt wie die am Machismus.
Worum es jenseits dieser Teilaspekte geht, ist etwas Politisches, das Schuldigwerden nicht von Institutionen, sondern das Schuldigwerden der Gesellschaft, die den Mord delegiert und ihn nachlässig und milde straft. Die "Chronik" ist ein Buch gegen die violencia, die Gewalt, die den Alltag nicht nur Kolumbiens entstellt hat und die des Vorurteils bedarf, um die Toten, die sie produziert, als geborene Opfer erscheinen zu lassen.
Mit roter Tinte schreibt der Untersuchungsrichter an den Rand der Akte seinen archimedischen Satz: "Gebt mir ein Vorurteil, und ich werde die Welt bewegen." Und bewegt wird die Welt von Vorurteilen in der Tat, aber nicht vorangebracht.
Kolumbien unterscheidet sich da nicht von Deutschland. Es braucht nicht mehr als die Übereinkunft, daß dort, wo jeder ein Verführer zu sein hat, der denunzierte Verführer sterben muß, damit alle anderen Verführer sich entsühnt glauben, oder die Übereinkunft, daß die Juden schuld an den menschenverachtenden Praktiken des Kapitalismus seien und deswegen ermordet werden müssen, damit die anderen weiterhin im Kapitalismus leben können -- und alle, aber auch alle, sehen dem Mord, von dem sie wissen, daß er nicht begangen werden darf, teilnahmslos zu. Nachher waren sie alle nicht schuld, konnten sie alle nicht verhindern, was geschehen ist.
Um diese Schuld aller, auch derer, die guten Willens waren, auch derer, die lieber nicht gemordet hätten wie die Brüder Pedro und Pablo, geht es in der "Chronik". Der Ort ohne Namen ist ein negatives Fuenteovejuna.
Wo bei Lope de Vega ein ganzes drangsaliertes Dorf sich entschließt, den Unterdrücker umzubringen, und sich weigert, den Namen des Täters preiszugeben, weil das Dorf selbst der S.135 Täter gewesen sei, versteckt sich das Nest am Magdalenenstrom hinter den Mördern, die doch nur stellvertretend gemordet haben, ungern, aber guten Gewissens, weil gedeckt durch das Vorurteil. Mitgerissen von ihrer "sittlichen" Pflicht stechen sie mit ihren Schlachtermessern zu und hören nicht die Schreie "des über sein eigenes Verbrechen entsetzten Dorfes".
Sie haben aller Welt verkündigt, was sie vorhatten, und obgleich alle wußten, daß sie den Zwängen des Vorurteils würden folgen müssen, haben sich, bis auf die wenigen, die Santiagos Tod wünschten, fast alle hinter der Ausrede verschanzt, daß sie ja nur redeten, aber nicht verwirklichen würden, was sie so oft erklärt hatten. Was wohl heißen soll, daß die gemeinten Verbrechen nur möglich sind, weil sie unbewußt auch von denen gewünscht werden, die sich allein durch Unglauben von ihnen distanzieren.
Der schuldbeladene Ort ist diesmal nicht Macondo, obgleich als Leitfossil der Oberst Aureliano Buendia auftaucht, wie übrigens auch die Familie Marquez und Mercedes Barcha, der der Erzähler während der Hochzeitsfeierlichkeiten einen Heiratsantrag macht und die Gabriel Garcia Marquez in seinem bürgerlichen Leben tatsächlich geheiratet hat.
Daß da Wirklichkeit in dieser unglaubwürdigen, aber überzeugenden Geschichte, der eine wahre Begebenheit zugrunde liegt, enthalten ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich um Literatur handelt, auch wenn, nach der Ansicht des Autors, das Leben weniger regelhaft vonstatten geht als die Literatur. Er spielt mit diesem Einfall und mokiert sich darüber, daß das Leben, das er fingiert, der Schundliteratur so ähnlich sei.
Er hat aber keine Schundliteratur geschrieben, sondern ein kleines Kabinettstück, das weniger mit den "Hundert Jahren Einsamkeit" oder dem "Herbst des Patriarchen" als vor allem mit der "Bösen Stunde" zu tun hat. Auch dort haben wir einen namenlosen Ort, der auch dort von einem Offizier als Bürgermeister verwaltet wird. Das frühe Werk sollte ursprünglich "Dieses Scheißnest" heißen, und das wäre auch ein Name für den Ort der "Chronik". Es geht hier wie da um einen Mord, nur begeht ihn in der "Bösen Stunde" die Polizei, und das Scheißnest versucht sich wenigstens zu wehren.
Die beiden Bücher gehören zusammen wie Vorder- und Rückseite der selben Medaille. Im einen Fall versucht die Gemeinde den Mord zu verhindern, vergeblich, im anderen tut sie nur noch so, als wolle sie ihn verhindern. Und wenn es im einen Fall heißt: "Es ist das ganze Dorf und niemand", so heißt es im anderen: "Alle konnten schuld sein." Das Scheißnest versinkt danach in alter Unterdrückung, der Ort an der Karibik lebt weiter wie zuvor. Widerstand S.136 wie Verbrechen werden nur erinnert vom Chronisten.
Wie immer bei Garcia Marquez ist die erzählte Geschichte mit größter Genauigkeit konstruiert. Drei von den fünf Kapiteln handeln vom Mord, das zweite und vierte berichten die Vor- und Nachgeschichte. "Sie haben ihn schon getötet" ist der letzte Satz des dritten Kapitels. Und "Sie haben mich getötet" sind die letzten Worte Santiagos am Ende des fünften Kapitels.
Zusammengehalten wird der Bericht durch zahllose Anspielungen und Wiederholungen, durch die deutlichste Beobachtung der Formen von Gegenwart und Vergangenheit, und alles wäre darauf angekommen, den deutschen Leser an diesen notwendigen Feinheiten teilhaben zu lassen.
Davon kann bei Curt Meyer-Clason keine Rede sein. Er hat wie so oft eine hastige und nachlässige Arbeit geliefert, die fast Seite für Seite zeigt, daß da keiner nachgedacht, sondern sich auf die Eingebungen des Augenblicks verlassen hat. Er weiß in der Regel nach wenigen Zeilen nicht mehr, was er kurz zuvor geschrieben hat, und macht auf solche Weise alle Anstrengungen des Autors zunichte.
Eben hat er noch gewußt, daß die Mulattinnen des Freudenhauses zu Bett gegangen sind, da läßt er den Erzähler durch den Gang schreiten, "in dem die Katzen der überall zwischen den Tulpenbäumen liegenden Mulattinnen schliefen", während in Wirklichkeit die Katzen der Mulattinnen zwischen den Tulpen schliefen.
Es sind ja nicht nur Tulpen etwas anderes als Tulpenbäume, es ist ein Feigenbaum auch etwas anderes als ein Gummibaum, und er ist das um so mehr, wenn dieser Feigenbaum seinen Namen ficus gigantea von Alexander Humboldt bekommen hat, der ihm eine schwer vergeßliche Anmerkung in seiner "Relation historique" widmet. Und was gekaut wird, sind nicht Kardamomkerne, sondern es ist eine Art Kressensamen. Vielleicht braucht man nicht unbedingt zu wissen, was ein Mannlicher-Schönauer Jagdrepetierer ist, aus dem Meyer-Clason eine Malincher Schonauer Büchse macht, aber man sollte sich denken können, daß es unmöglich ist, aus einem Laubsägeblatt ein mörderisches Messer herzustellen.
Ebenso unerklärlich ist es, warum Bayardo San Roman einen silberbeschlagenen Reisesack braucht, um zehn Tausenderscheine zu transportieren -ein Rätsel, das sich löst, wenn man erkannt hat, daß es sich um zehn Bündel Scheine a 1000 handelt. Vom Bürgermeister wird erzählt, daß er Spiritist sei. Wenig später heißt es, er "wurde am Ende Vegetarier und überdies Spiritist". Kann einer werden, was er schon ist? Nein, denn er wurde, "außer daß er Spiritist war, auch noch Vegetarier".
Wo einer ohnmächtig wird, "verflüchtigt er sich", wo jemand eben erst erblindet ist, ist er "zu früh erblindet", wo von Grenzkrankheiten die Rede ist, werden "Grenzstreitdelirien" daraus, aber am merkwürdigsten ist wohl der Bräutigam, der als "Levit und Possenreißer" auftritt, während er doch in Tat und Wahrheit in Frack und Zylinder erscheint.
Aus Santiagos Sarazenengesicht mit seinen wirren Locken wird ein "stürmisch gefurchtes Sarazenengesicht", und die Kranken werden aus Anlaß der Bischofsvisite "an die Haustüren gelehnt", statt daß die bettlägrigen Kranken in die Hauseingänge gestellt werden. Santiago, der seinen Namen nach seiner Taufpatin Luisa Santiaga hat, bekommt ihn in der Meinung des Übersetzers "statt des ihren".
Wo immer man hinschaut, steht Unsinn, den der Leser in vielen Fällen nicht einmal verstehen kann. Was, um Himmels willen, ist ein "Gemetzel aus Repression", wie kann einer "das verlorene Unterpfand der Unschuld vertuschen" und was soll das sein: "Er ging mit Cristo Bedoya am Flußufer mit den Kneipen der Armen entlang, in denen im alten Hafen die Lichter anzugehen begannen"? Versuchsweise: "Er ging mit Cristo Bedoya das Flußufer entlang, vorbei an den Elendsquartieren, in denen am alten Hafen gerade die Lichter angingen."
Mit der Prosa von Garcia Marquez hat, was die deutschen Leser erwartet, wenig zu tun. Ihre Genauigkeit ist ungenau geworden, ihr blendender Sprachreichtum ist auf altmodischen Stelzengang reduziert, ihre Derbheiten sind betulich geglättet. So geht es nicht, und das sollten sich Verlag und Übersetzer endlich zu Herzen nehmen.
Von Walter Boehlich