Autor: Ismail Kadare
Titel: Der zerrissene April
Originaltitel: Prilli i thyer, erschien erstmals 1980
Seiten: 239
Verlag: Fischer
ISBN: 9783596157617
Autor: (von der
Verlags-Homepage)
Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er lebt heute in Tirana und Paris.
Hintergrund:
Das jahrhundertealte Gewohnheitsrecht
Kanun regelt soziale, wirtschaftliche und rechtliche Beziehungen im schwer zugänglichen, nordalbanischen Gebirge. Tragende Elemente sind die Familie, die Ehre, das Gastrecht und die Blutrache. Lange Zeit nur mündlich überliefert und mit fragwürdigem Verständnis der patriarchalischen Stammesordnung, entstanden zum Teil zwanghafte Rituale. Während der kommunistischen Diktatur (1944 – 1990) konnte der Staat seine Rechtshoheit durchsetzen, aber mittlerweile sind gemäss Wikipedia wieder 15.000 Familien in Blutfehden involviert, deren Ursache teilweise noch aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg datiert.
Inhalt:
Gjorg Berisha wird von seinem Vater ausgewählt, den Tod seines Bruders nach den Regeln des Kanun zu rächen. Ihm ist klar, dass ihm nach dem Mord eine 30-tägige Gnadenfrist gewährt wird und er danach zum „Blutgeber“ wird, also von der rivalisierenden Familie getötet werden wird. In diesen 4 Wochen (bis zum 17. April) muss er zum Turm Orosh, die Blutsteuer entrichten, und trifft auf seiner Reise die attraktive Diana, die frisch vermählte Frau eines Schriftstellers aus Tirana.
Besian und Diana Vorpsi befinden sich sozusagen auf Hochzeitsreise. Mit einer Kutsche kommen die beiden Städter in das „wilde“ Hochgebirge. Vor allem Besian ist daran interessiert, das wildromantische, verklärte Albanien mit seinen uralten Stammesregeln, patriarchalischen Strukturen und den in Tirana nur aus Erzählungen bekannte Blutrecht aus nächster Nähe kennen zu lernen. Der erhoffte „leichte Grusel“ und die „städtische Überlegenheit“ werden aber rasch von der Wirklichkeit eingeholt, und inmitten der nebelverhangenen Berge erkennen die Beiden, dass die hier lebenden Menschen den Traditionen ausgeliefert sind.
Mark Ukaçjerra ist der Verwalter des Blutes. Im Auftrag des Prinzen von Orosh ist er für die Einhaltung der Blutrache zuständig. Seit Längerem ist er von den geringer werdenden Einnahmen aus der Blutsteuer besorgt, und seine grösste Angst ist vor dem „Weissen Tag“, ein Tag, an dem kein Mord aus Blutrache geschieht.
Meinung:
Die abgelegene, vernebelte Bergwelt und die zeitlose, traditionsbewusste Gesellschaft lässt die Erzählung etwas märchenhaft erscheinen. Es ging mir beim Lesen wie dem jungen Ehepaar aus Tirana. Man betritt eine unbekannte, altertümlich anmutende Welt, in der das Leben nach anderen Regeln läuft. Dabei hilft es immens, dass die Geschichte aus drei verschiedenen Perspektiven erzählt wird: Gjorg, der vom Blutnehmer nach einer Gnadenfrist zum Blutgeber wird und in dieser Zeit reflektiert, wie die bisherigen 26 Jahre seines Lebens verliefen, und was er in den verbleibenden 30 Tagen noch geniessen kann. Der Schriftsteller, der seiner Frau (und somit auch dem Leser) den Kanun und dessen Geschichte und Besonderheiten erläutert. Und aus Sicht des Verwalter des Bluts, der um den Verfall der Werte besorgt und der Tradition verpflichtet ist. So ergibt sich eine sehr informative, ganzheitlich betrachtete Geschichte, die mir zu Beginn etwas märchenhaft erschien, und schliesslich ratlos und erschreckt beeindruckt hat, ähnlich wie es der jungen Ehefrau erging: Ein Wandel von einem kleinen Ausflug in die Welt der Sonderbaren, Wilden, Geheimnisvollen, hin zur Erkenntnis, dass dieses Rechtsverständnis und die Ehre des Blutes eine brutale Tragödie für viele Familien bedeutet, und aus dem es auch kein Entkommen zu geben scheint.
Allgemeines:
Ich las übrigens die gebundene Ausgabe des Ammann-Verlags, der seine verlegerische Tätigkeit im Juni 2010 eingestellt hat. Die aktuell verfügbare und hier verlinkte Ausgabe des Fischerverlags hat das gleiche Cover, den gleichen Übersetzer und ich hoffe mal, dass auch das Glossar mit Hintergrundinformationen zur Geschichte Albaniens vor dem Zweiten Weltkrieg, der albanischen Sprache und natürlich der Entwicklung des Kanuns enthalten ist. Diese vier Seiten Zusatzmaterial waren hilfreich, insbesondere um sich zu gegenwärtigen, dass der Erzählung nicht reine Fiktion, sondern tatsächliches Brauchtum zu Grunde liegt, so unglaublich es auch klingen mag.
Zudem wurde der Roman 2001 vom brasilianischen Regisseur Walter Salles unter dem Titel „Abril Despedaçado“ (zu deutsch: „Hinter der Sonne“) verfilmt. Die Handlung wurde leicht abgewandelt und nach Brasilien verlegt, daher frage ich mich, wie nah die Literaturverfilmung an Kadares Werk sein kann, aber gesehen habe ich den Film noch nicht.